Reformation und säkulare Gesellschaft

Wir müssen die Geschichte der Reformation heute neu erzählen. In ihrem Mittelpunkt sollten nicht mehr Luther und die protestantische Kirche des 16. Jahrhunderts stehen, sondern der Aufbruch der westlichen Christenheit insgesamt zu einem neuen Welt- und Menschenbild am Ende des Mittelalters – ein Aufbruch, der sich schon mindestens ein Jahrhundert vor Luther abzeichnete und keineswegs nur die protestierenden Stände des Reichs erfasste. Zu einer solchen Neueinschätzung des reformatorischen Prozesses gelangt man notwendigerweise, wenn man auf diesen aus unserer heutigen Perspektive einer „säkularen Gesellschaft“ zurückblickt.
Wir leben heute, darüber besteht kaum ein Dissens, in einer säkularen Gesellschaft. Aber was heißt das? Was ist die säkulare Gesellschaft? Viele verstehen darunter das liberale Verfassungsprinzip der Trennung von Kirche und Staat: Staatliche und kirchliche Organe sind getrennt, für den Staat spielt das religiöse Bekenntnis seiner Bürger keine Rolle, die Religion begründet nicht mehr wie in früheren Zeiten die Staatsraison. An die Säkularität der Gesellschaft haben sich schon in der Vergangenheit viele Hoffnungen geknüpft: vor allem die, dass sich in ihr religiöse Konflikte zwischen verfeindeten religiösen Gruppen beilegen ließen. Das war die große Hoffnung der Liberalen und dann auch der Sozialisten im 19. Jahrhundert. Sie bezeichneten die Säkularität der Gesellschaft noch mit anderen Begriffen, etwa als „Kultur“, „Gesittung“, „Zivilisation“, „Wissenschaft“, „Rationalität“, aber sie meinten damit in einem Punkt immer dasselbe: eine Reflexions- und Lebenssphäre, in der religiöse Dogmen und Gegensätze keine tragende Rolle für das Gemeinwesen spielen.
Tatsächlich gab es in Westeuropa seit dem 18. Jahrhundert immer große, und meist auch führende gesellschaftliche Schichten, die sich diesem Ideal der Neutralisierung religiöser Konflikte verpflichtet fühlten. Immer wieder schoben sich in den religiösen Auseinandersetzungen der entstehenden nationalen Gesellschaften säkulare Gesellschaftsschichten gewissermaßen als Schiedsrichter zwischen die streitenden Parteien, aber auch zwischen Kirche und Staat, um bald für, bald gegen sie Partei zu ergreifen.
Gerade die deutsche Geschichte bietet dafür zahlreiche Beispiele: So war es etwa im Dritten Reich, als Bekennende Kirchen und Deutsche Christen um Macht und Einfluss rangen – und letztere, nämlich die Deutschen Christen, schließlich verloren, weil sich die säkulare Gesellschaft gegen sie wandte. So war es aber auch schon während des Kaiserreichs gewesen, als Arbeiterschaft und liberales Bürgertum gegen die orthodoxen Parteien in beiden Kirchen und ihre Verbündeten in den Regierungen mobil machten. Auch heute reagiert die säkulare Öffentlichkeit äußerst sensibel auf Aktionen in christlichen und islamischen Verbänden, die den gesellschaftlichen Frieden bedrohen könnten – ohne doch selbst damit religiös für oder gegen die eine oder andere Gruppe Partei zu ergreifen. Keine Religionsgemeinschaft kann in der säkularen Gesellschaft mit bedingungsloser Loyalität rechnen, immer wird ihr nur von Fall zu Fall, im Augenblick ihrer politischen Selbstpositionierung, Recht oder Unrecht gegeben.
Man kann die Anfänge dieser neutralisierenden Kraft der säkularen Gesellschaft in Europa weit zurück verfolgen: etwa in die Zeit der mit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 verbundenen Ausweisung der Hugenotten aus Frankreich unter Ludwig XIV. oder 1731 die der Protestanten aus Salzburg durch den katholischen Erzbischof Leopold Anton von Firmian, was damals nicht nur von Protestanten, sondern auch von aufgeklärten Katholiken verurteilt wurde. Damals sprach sich die öffentliche Meinung in ganz Europa für die verfolgten Protestanten aus, umgekehrt ergriff in den 1870er- und 1880er-Jahren eine schon kirchendistanzierte säkulare Öffentlichkeit in Deutschland aber auch gegen Bismarck für die Katholiken Partei, als dieser sie zu Reichsfeinden erklärte.
Zur Entfaltung einer säkularen Öffentlichkeit bedurfte es freier Institutionen wie der Universitäten und freier, überkonfessioneller Medien; auch gesellschaftlicher Gruppen, denen religiöse Bekenntnisse nicht die einzigen und höchsten Normen ihres Handels waren. Und es brauchte Gesetze und soziale Konventionen, die denjenigen, die keiner Religionsgemeinschaft angehörten, effektiv Unabhängigkeit und Freiheit garantierten. Solche Einrichtungen sind erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einflussreichen und politisch unabhängigen Instanzen geworden. Sie zu erhalten und zu stärken, bleibt auch heute noch eine gesellschaftspolitische Daueraufgabe, ohne deren erfolgreiche Lösung eine säkulare Öffentlichkeit nicht zu haben ist.

Aufräumen mit einer historischen Legende

Was bedeutet dies nun für das Verhältnis der säkularen Öffentlichkeit zu den Religionsgemeinschaften? Lange Zeit galt das Verhältnis zwischen Religion und säkularer Gesellschaft als grundsätzlich antagonistisch: Der freidenkerische und sozialistische Atheismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts glaubte, dass erst nach dem Ende des religiösen Aberglaubens ein glückliches säkulares Zeitalter anbrechen könne. Christen aller Kirchen glaubten dagegen, dass der „Säkularismus“, der Unglaube, die Welt ins Verderben stürzen werde.
In ihren Missionskonzepten beschrieben die christlichen Kirchen die säkulare Gesellschaft als eine Art von unbestelltem Acker, auf dem allerlei Unkraut wächst, das ausgerissen werden müsse, damit die wertvolle christliche Saat darauf erblühen könne. Und dieses Vorurteil überlebt noch bis heute darin, dass sich die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit der Frage, was die säkulare Gesellschaft für sie bedeutet, viel zu wenig auseinandersetzen. Das Verhältnis von Geben und Nehmen erscheint in kirchlichen Stellungnahmen immer noch meist als eine Einbahnstraße, wobei sich die Kirchen in der Position der gebenden, die säkulare Gesellschaft in der des nehmenden Teils wähnen, von dem man daher auch Dankbarkeit und missionarische Handlungsfreiheit erwarten könne.
Doch dies ist eine höchst einseitige Sicht, längst hat sich das Verhältnis auch umgedreht: Schon politisch gesehen zehren die Kirchen in Deutschland heute von einem Wohlwollen der säkularen Gesellschaft, ohne welches sie ihre privilegierte verfassungsrechtliche Stellung gar nicht aufrecht erhalten könnten. Doch auch ideell gilt: Nicht mehr die Kirchen sind die Spender der ethischen Normen, die das Leben der modernen Gesellschaft regeln, sondern die säkulare Gesellschaft hat aus sich selbst heraus Werte und Normen geschaffen, von denen die Kirchen und christlichen Theologien befruchtet worden sind. Wissenschaften und Künste, Vernunft und Menschenrechte sind nicht „Säkularisate“ der christlichen Tradition, sondern eigenständige Produkte der säkularen Gesellschaft, die sich die Kirchen und ihre theologischen Schulen anverwandelt haben. So erscheinen ihnen heute etwa die Menschenwürde oder der Naturschutz als urchristliche Werte, obwohl sie als allgemeine Menschheitswerte erst in der Neuzeit entstanden sind.
Deshalb muss auch hier mit einer historischen Legende aufgeräumt werden: Die säkulare Gesellschaft ist nicht aus den kirchlichen und religiösen Strukturen des Christentums hervorgegangen, sondern sie zehrt von vielen Traditionen – religiösen wie dem Judentum und dem Islam, ja selbst dem Buddhismus und Konfuzianismus; auch wissenschaftlichen, politischen und rechtlichen Traditionen. Eine der wichtigsten Quellen der säkularen Gesellschaft liegt zum Beispiel im europäischen Humanismus, der, über Klöster und die arabische Philosophie durchs Mittelalter gerettet, zur Zeit der Renaissance die Reformation der westeuropäischen Gesellschaften befruchtet hat: die Errichtung der großen Universitäten (Bologna, Paris, Prag usw.), die Rezeption des römischen Rechts, der Ausbau der christlichen Religionskritik zu einer umfassenden ethischen Haltung, der Aufbau moderner Verwaltungssysteme, die Entfaltung einer säkularen (d. h. nicht kirchlich gebundenen) Kunst und Literatur, die Durchsetzung rationaler Methoden des Wirtschaftens, der staatlichen Organisation, der wissenschaftlichen Durchdringung der Natur und der menschlichen Gesellschaft – all diese zwischen 1300 und 1800 sich akkumulierenden Prozesse wirkten zusammen, damit in Europa so etwas wie eine säkulare Gesellschaft entstehen konnte.

Im Zentrum dieser Prozesse stehen weder die Reformatoren noch die Päpste. Wie intensiv kirchliche Erinnerungskulturen heute zum Beispiel auch die Bedeutung von Luther und Melanchthon für das protestantische, oder der Jesuitenschulen für das katholische Bildungssystem veranschlagen, so führt doch keine grade Linie von der Reformation zur modernen Gesellschaft. Vielmehr müssen wir festhalten, dass die Reform des Christentums zu Beginn der Neuzeit mit dessen Konfessionalisierung eher blockiert worden ist. Luther konnte sich mit seiner Reform der Kirche ebenso wenig durchsetzen wie das Trienter Konzil (1545–1563) mit der seinigen: Beide Teilreformen blieben – deutschland-, europa- und weltweit – Stückwerk, sie endeten im Blutbad der Religionskriege des 17. Jahrhunderts und seinen lang anhaltenden Folgen im konfessionalistischen 19. Jahrhundert. Das bis heute vorherrschende Bild von der Reformation, ja sogar der Begriff der „Reformation“ selbst sind noch heute Teil dieser tendenziösen historischen Erzählung.
Die Region an Rhein und Ruhr als reformatorisches Zentrum

Was sich faktisch schließlich durchsetzte, war etwas Anderes: Es waren jene leiseren Reformbewegungen, die sich teils zwischen den Konfessionen, teils jenseits von ihnen, etwa in der humanistischen Kirchenreform des Erasmus von Rotterdam, oder in den staatlichen Verwaltungen im Gewande konfessioneller Ordnungen und Positionen durchsetzten. So gesehen verdient gerade die Region an Rhein und Ruhr besondere Aufmerksamkeit.
Sie steht im 16. Jahrhundert am Rande des lutherischen, reformierten und auch des katholischen Reformwerks, sie steht aber im Zentrum jener vielfältigen und sich überlagernden Strömungen, die die Dynamik der säkularen Gesellschaft in Westeuropa auf den Weg gebracht haben: etwa der neuen Frömmigkeitsbewegungen der devotio moderna, die sich in Form der „Brüder“ und „Schwestern vom gemeinsamen Leben“ von ihren Zentren in Flandern und am Niederrhein im 15. Jahrhundert weit nach Osten und Süden verbreiteten; aber auch des rationalen wirtschaftlichen Wettbewerbs und der demographischen Wanderungsbewegungen, die für die Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften unerlässlich waren. Wirtschaftliche und religiöse Neuerungen gingen hier oft Hand in Hand: so etwa bei der Erschließung neuer Absatzmärkte durch die Händler am Niederrhein nach Süden und Osten ins Ruhrgebiet, Bergische Land und die Städte am mittleren Rhein, als ihnen die traditionellen Absatzmärkte in den nordwestlichen Niederlanden aus konfessionspolitischen Gründen verschlossen waren; oder später bei der Implementierung der Tuchindustrie im Bergischen Land, die mit einer konfessionsübergreifenden Anstellungspolitik führender Unternehmerfamilien wie der Colsmanns in Langenberg südlich von Bochum einher ging.
Die Herzöge von Jülich, Kleve und Berg, die im 16. Jahrhundert die Region am Niederrhein beherrschten, wurden von Konrad Heresbach und anderen Schülern des Erasmus von Rotterdam im Geiste des Humanismus erzogen und politisch gelenkt. Sie waren, wie andere Fürsten damals auch, an kirchlichen Reformen interessiert, schlossen sich aber weder dem protestantischen Schmalkaldischen Bund noch der kaiserlichen Gegenallianz an, sondern suchten in der Kombination unterschiedlicher Reformlager (Lutheraner, Jesuiten) einen mittleren Weg (via media) zwischen deren Reformvorschlägen. So überließen sie bei der Kirchenreform den großen Kommunen in ihrem Herrschaftsbereich ein weit reichendes Selbstgestaltungsrecht, das diese dann auch selbstbewusst in Anspruch nahmen. Selbst die aus den Niederlanden eingewanderten radikalen Reformierten konnten in ihren Territorien Gemeinden gründen, die im 17. Jahrhundert dann auch staatliche Anerkennung fanden.
Was den konfessionalistisch verhärteten Religionsparteien schon im 16. Jahrhundert auf beiden Seiten als halbherzige Mittelposition ohne Kraft und Konzept erschien, erwies sich nur kurzfristig als katastrophal für die Herzöge von Jülich- Kleve-Berg, deren Haus 1609 ausstarb; auf die Dauer hingegen als der einzig gangbare Weg zur Modernisierung der Gesellschaft. Noch im 1614 geschlossenen Vertrag von Xanten zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg, durch den das Herzogtum Jülich, Kleve und Berg in einen protestantischen und einen katholischen Teil zerfiel, erhielt sich die Toleranzpflicht für die jeweilige Minderheitskonfession. Sie wurde zum Vorbild für den Westfälischen Frieden und über ihn zur Prämisse des konfessionsneutralen deutschen Staatensystems im 19. und 20. Jahrhundert.
Natürlich kamen auch hier zur Zeit der Aufklärung die neuen Ideen des Naturrechts hinzu: individuelle Meinungs- und Glaubensfreiheit, Bewegungs-, Handelsund Gewerbefreiheit, die das labile Gleichgewicht der konfessionellen Kräfte zu einer konfessionsneutralen staatsbürgerlichen Freiheit weiter entwickelten. Doch auch ohne die naturrechtlichen Garantien, mit denen aufgeklärte Herrscher im 18. Jahrhundert die überkonfessionelle Neutralität ihrer Staaten zu sichern begannen, entstanden im 16. Jahrhundert an Rhein und Ruhr Strukturen zwischen- und überkonfessionellen Zusammenlebens, welche der säkularen Gesellschaft als Vorbild dienen konnten: In den Frauenstiften um Dortmund, in Fröndenberg, Clarenberg, Gevelsberg und Herdecke zum Beispiel lebten Frauen unterschiedlicher Konfessionalität unter überkonfessionellen Leitungsstrukturen zusammen. In Dortmund und Düsseldorf entstanden in den 1540er-/50er-Jahren humanistische Gymnasien, die nach beiden Seiten, zu Alt- und Neugläubigen offen waren und zu einer konfessionsneutralen humanistischen Religiosität erzogen. Unter Ausklammerung konfessioneller Streitfragen wurden hier Reformen wie Laienkelch und Priesterehe umgesetzt – allerdings unter Vermeidung des Bruchs mit Rom und ohne Auflösung der hierarchischen Kirchenstrukturen. In Essen sympathisierte die Fürstäbtissin Katharina von Tecklenburg schon in den 1530er-Jahren mit den lutherischen Reformen, die in der Stadt Anklang fanden, ohne sich doch politisch der lutherischen Reformation anzuschließen. Der Pastor an der katholischen St. Petri-Kirche in Dortmund Jacob Schoeppner verfasste 1548 einen Katechismus, der auch vom lutherischen Reformator der Stadt Hermann Hamelmann empfohlen wurde.
Die Reihe der konfessionsvermittelnden und konfessionsübergreifenden Maßnahmen in der Region an Rhein und Ruhr ließe sich noch lange fortsetzen. Sie zeigen: Die Elemente säkularer Gesellschaft liegen nicht in der konfessionellen Gestalt reformerischer Maßnahmen selbst, sondern in den Bedingungen ihrer friedlichen Koexistenz in den Kommunen und Territorien. Sie schufen den Rahmen für die neuen Ideen, die den konfessionellen Dissens überwölbten und die moderne Gesellschaft auf den Weg brachte. Wegweisend für deren säkularen Charakter waren daher weniger die konfessionellen Einrichtungen im Schul- und Fürsorgewesen selbst oder die speziellen Anordnungen und Privilegien für einzelne Kirchen und Gemeinden, welcher Konfession auch immer sie anhingen; sondern es waren die Einrichtungen, Anordnungen und Initiativen, die einen modus vivendi zwischen den verfeindeten religiösen Parteien ermöglichten: etwa die kurfürstlichen Edikte, die ein Zusammenleben von Lutheranern und Reformierten in Preußen regelten, oder der Religionsvergleich zwischen Friedrich-Wilhelm von Brandenburg und Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg von 1624 und dann noch einmal 1672/73. Er legte die Rechte der religiösen Minderheit im je anderen Territorium fest.
So waren es nur selten spektakuläre Ereignisse wie die Toleranzedikte der preußischen Kurfürsten in Schlesien 1745 und der bayrischen Kurfürsten in der Oberpfalz 1772, oder später die rechtliche Gleichstellung der drei großen christlichen Religionsgemeinschaften auf dem Wiener Kongress 1815, die den Weg in die säkulare Gesellschaft ebneten, sondern eher Kompromisse, kleinste gemeinsame Nenner, Abwehrmaßnahmen gegen Gefahren von außen. Aber in ihrer Tragfähigkeit für unterschiedliche Interessen erwies sich dann doch auf die Dauer ihre Leistungskraft. Die großen Ideale der Aufklärung, Freiheit, Toleranz, Brüderlichkeit, auch die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den USA und Frankreich proklamierten Menschenrechte, sind aus diesen Räumen interkultureller Kontakte entstanden.

Die Geschichtlichkeit der konfessionellen Gegensätze

Wenn wir die Reformationsepoche aus der Perspektive der modernen säkularen Gesellschaft betrachten, verändert sie ihren Charakter: Angebliche „Leistungen“, wie die von Luther proklamierte „Freiheit eines Christenmenschen“, treten als „Proprium“ protestantischer Lebensführung zurück, weil sie auch (und mitunter überzeugender) von Katholiken und Angehörigen anderer Bekenntnisse gelebt wurden. Scheinbar „fundamentale“ konfessionelle Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus verändern ihre Bedeutung, wenn sie nicht mehr im Gegensatz zu katholischen Dogmen, sondern als Ergänzung oder Variante zu ihnen gelesen werden.
Das lässt sich zum Beispiel an der Lehre von der Rechtfertigung des Christen vor Gott zeigen. Die von protestantischer Seite immer wieder eingehämmerte konfessionelle Alternative lautet seit Jahrhunderten: entweder protestantisch „allein aus Gnade“ (sola gratia) oder katholisch „durch gute Werke“ (ex opere operata). Doch diese Alternative erscheint heute vielen Christen, auch Theologen beider  sionen, als durchaus falsch gestellt. Denn wie immer man den Grundsatzstreit der Reformatoren über das Gottesverhältnis des Menschen auch liest – ob theologisch oder historisch –, so stellt er sich heute als zumindest teilweise zeitgebunden, und für viele Theologen auch als überwindbar dar: Ob man das rechte Tun des Menschen, seine „guten Werke“, nämlich katholisch als verdienstlich im Sinne eines verheißenen Lohns im Himmel, lutherisch als Folge und Frucht von Gottes Gnade oder calvinistisch als Zeichen für Gottes Auserwählung liest, das mag zwar psychologisch für den Einzelnen durchaus von großer Bedeutung sein. Und für alle, die wie Luther unter dem Druck der Selbstrechtfertigung durch gute Werke leiden, ist dies vermutlich auch heute noch so. Aber auch schon die tridentinische katholische Theologie erkannte die Bedeutung des rechten Tuns aus der Erfahrung von Gottes Gnade an, wie auch umgekehrt die lutherische und calvinistische Theologie nie die Bedeutung der guten Werke leugnen konnte.
So geht es uns heute auch mit vielen anderen dogmatischen Unterschieden zwischen Katholizismus und Protestantismus: Nicht nur Protestanten nehmen die biblischen Schriften als autoritatives Wort Gottes, auf das sich jeder Christ letztgültig berufen darf und muss, auch Katholiken tun dies – und dies nicht erst neuerdings: Schon in den spätmittelalterlichen Ketzerprozessen galten die biblischen Schriften als letztgültige Entscheidungsinstanz, das Prinzip „sola scriptura“ schon damals, nicht erst bei Luther, als ultimatives Rechtsprinzip. Umgekehrt: Wenn sich Protestanten heute in theologischen Kontroversen auf ihre symbolischen Bücher, etwa die Confessio Augustana oder den Heidelberger Katechismus, berufen, dann erkennen auch sie die Notwendigkeit der Übersetzung und Deutung des Gotteswortes für den eigenen heutigen Gebrauch an, ebenso wie wenn sich Katholiken auf Konzilsbeschlüsse und päpstliche Enzykliken beziehen. Die dogmatische Formel „sola scriptura“ ist deshalb richtig und falsch zugleich: richtig in der Hervorhebung der Autorität der biblischen Schriften, falsch jedoch in der Meinung, dies sei ein Markenzeichen protestantischer Kirchen und Theologien.
Aus der Auffassung, die konfessionellen Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen seien zeitbedingte, keine grundsätzlichen Gegensätze, muss und soll allerdings nicht gefolgert werden, sie seien deshalb „bloß“ historisch, nicht von grundsätzlicher Bedeutung auch für unsere Zeit: Konflikte, wie sie Luther gegen die damalige Papstkirche ausfocht, können immer wieder, auch heute und morgen, auftreten.
Luthers Opposition hat deshalb durchaus Vorbildcharakter auch für andere historische Konstellationen. Aber dabei geht es nicht immer nur um den Abwehrkampf protestantischer Minderheiten gegenüber einer katholischen Majorität. Es kann sich auch, wie heute in Nordirland, umgekehrt um die berechtigte Opposition katholischer Minderheiten gegen eine protestantische Vorherrschaft oder, wie im Nahen Osten, um die von Christen gegen eine muslimische Bedrückung handeln. Protestanten haben die Rolle des ungerechten Opfers nicht für sich gepachtet, sie sind oft genug auch Täter gewesen und sind es auch heute noch. Neue Reformationsgeschichte Unter dem Eindruck der historischen Zeitbedingtheit und theologischen Überbrückbarkeit dogmatischer Differenzen muss nun auch die Reformationsgeschichte neu durchdacht und beschrieben werden. Neue historische Erkenntnisse zeigen uns, dass wir sie lange Zeit verzerrt gelesen haben. Dies gilt vor allem für die überscharfe Pointierung der konfessionellen Differenzen im 16. und 17. Jahrhundert, die es richtig zu stellen gilt.

Wenn man den Spaltungsprozess im 16. Jahrhundert genauer betrachtet, lässt sich ein dezidiertes Gegeneinander zweier religiöser Fraktionen zunächst allein auf der Ebene der großen Politik beobachten: Wer sich dem Schmalkaldischen Bund protestierender Fürsten und Reichsstädte von 1531 angeschlossen hatte, widersetzte sich nicht nur dem kaiserlichen, sondern auch dem päpstlichen Primatsanspruch und nahm die Kirchenreform, zunächst meist in Anlehnung an Luthers Vorschläge, unter Berufung auf das bischöfliche Notrecht der Landesherren bei Versagen der kirchlichen Würdenträger, in die eigene Hand. Die zugleich kirchen- und reichsrechtliche Spaltung vertiefte sich über den Augsburger Religionsfrieden und den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) hinweg bis zum Westfälischen Frieden von 1648. Er sorgte dafür, dass die konfessionelle Spaltung zunächst einmal als politische Spaltung zwischen zwei letztlich gleich starken Staatenbünden festgeschrieben wurde.

Über die kirchliche und theologische Substanz dieser Spaltung ist damit allerdings noch nicht viel gesagt: Denn im Raum der religiösen Praxis traten nicht zwei miteinander unvereinbare Kirchentümer in Konkurrenz zueinander, sondern es bestand eine große Vielfalt von einzelnen Riten und Reformmaßnahmen, die ganz unterschiedlich kombinierbar waren. Sie wurden von den Gemeinden, Städten und Landesherren hier mehr, dort weniger aufgegriffen. Oft ging es dabei, etwa bei der Anerkennung von Hochzeits- oder Beerdigungsriten, um die Anerkennung ziviler Rechte, für deren Durchsetzung man sich etwa der Maßnahme des symbolischen Auszugs aus der Gemeinde bediente. Oder die Einhaltung von Riten wurde zum Test für die Ernsthaftigkeit der religiösen Praxis, so etwa bei der Verehrung von Heiligenbildern oder bei der Bußfertigkeit der Gläubigen beim Abendmahl. So gab es zwar viele Differenzen und auch viel Streit, aber nicht entlang fester konfessioneller Grenzen.

Bei der Durchführung kirchlicher Reformen handelten verschiedene Obrigkeiten, die man später als „katholisch“ bzw. „protestantisch“ bezeichnete, noch eher im Sinne eines Mehr oder Minder als in der eines Entweder–Oder. Es ging den Reformern ja im 16. und 17. Jahrhundert noch nicht um die rituelle Einrichtung einer neuen Kirche, sondern um die Reform der alten. Die Situation war eher der Konkurrenz verschiedener Reformstrategien im heutigen Schulwesen vergleichbar, die von einzelnen Schulen mehr oder minder stark aufgegriffen und dabei oft auch miteinander kombiniert werden. Das heißt, es gab eine große Fülle von Reformvorschlägen – vom Laienkelch bis zur Priesterehe, von der Reduktion der Zahl der Sakramente bis zur Abschaffung der Heiligenverehrung, von der Preisgabe des Messopfers bis zur Ausgestaltung des Gebets in Form von Kirchenliedern – aber sie wurden nicht alle in Form eines Pakets angeboten, das man als innere Struktur einer „katholischen“ bzw. „protestantischen“ „Konfession“ hätte bezeichnen können.

In den Erhebungen des konfessionellen Status, die 1648 im Zuge des Westfälischen Friedens für das „Normaljahr“ 1624 angestellt wurden, haben wir eine gute Quelle für die völlig unterschiedliche Ausgestaltung der Reformmaßnahmen in einzelnen Gemeinden: Die Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt konnte diesen Berichten zufolge zum Beispiel durchaus mit der Abhaltung des katholischen Messopfers einhergehen, Priesterehe mit Heiligenverehrung usw. Der einfache Laie wusste im 17. Jahrhundert meist noch gar nicht zu sagen, ob er „Katholik“ oder „Protestant“ war. Es gab ja auch noch kein Bewusstsein von einer „Konfession“ im Sinne einer festen Religionsgemeinschaft, der man sich zugehörig fühlte – und dies gar unter Absehung des politischen Systems, in dem einer lebte. Allenfalls von seiner Obrigkeit wusste der einfache Bürger bzw. Untertan zu sagen, ob sie „römisch-katholisch“, „lutherisch“ oder „reformiert“ war, und dies bedeutete für ihn selbst, wie gesagt, in erster Linie: zu welcher politischen Obrigkeit, nicht zu welcher „Konfession“ er gehörte. So erhielt sich auch noch bis ins 18. Jahrhundert hinein in „protestantischen“ Gemeinden die Ohrenbeichte, prächtige Ornate für hochgestellte Geistliche waren weit verbreitet, ebenso das Stundengebet und viele andere Riten und Einrichtungen, die später als typisch „katholisch“ angesehen wurden.

Auch reformierten sich natürlich nicht nur protestantische, sondern auch katholische Gemeinden: Schon das Trienter Konzil hatte die Häufung von Pfründen und den Ablasshandel – Kernpunkte der lutherischen Kirchenkritik – stark eingeschränkt, die Katechese und das Ordenswesen reformiert. Katholische Bischöfe und Landesherren führten ebenso wie evangelische Städte und Gemeinden vermehrt und ernsthafter als früher Kirchenvisitationen durch, die auf ein geordnetes Kirchenwesen drängten. Erzogen protestantische Geistliche ihre Pfarrkinder zu einem „frommen“ Leben, so leiteten sie die Jesuiten und andere katholische Orden zu einer „spirituellen“ Praxis an. Ebenso wie lutherische Stadträte errichteten die katholischen Orden höhere Schulen mit einem reformierten Bildungskanon, und ebenso wie lutherische geistliche Räte berieten Jesuitenpatres die katholischen Fürsten und Stände beim Aufbau moderner Verwaltungsstrukturen. Die allermeisten Kirchen- und Verwaltungsreformen, an denen Geistliche beteiligt waren, zielten in katholischen wie protestantischen Regionen auf ähnliche Ergebnisse. Die Reforminstrumente waren zum Teil zwar verschieden, in ihrer modernisierenden Wirkung aber waren sie weitgehend kongruent.

Nur langsam verdichteten sich im 17. Jahrhundert die inneren Zusammenhänge zwischen den einzelnen Reformmaßnahmen, es entstanden katholische und protestantische Orthodoxien, die auf eine Kanonisierung und Systematisierung der Reformmaßnahmen drängten. Erst nach und nach, eigentlich erst im 18. und 19. Jahrhundert, entstanden daraus konfessionelle Identitäten im Sinne von geschlossenen Konfessionskulturen. Aber auch jetzt kam es zu zahlreichen osmotischen Beziehungen zwischen diesen: Protestantische Frömmigkeitsstile, das heißt Lebensformen, die sich aus konfessionellen theologischen Begründungen wie der calvinistischen Prädestinationslehre oder der lutherischen Gnadentheologie speisten, drangen in katholische Regionen und Bildungsschichten vor, katholische Spiritualitätsformen in protestantische Regionen und Bildungsschichten. Die Übernahme von Riten und Symbolen über Konfessionsgrenzen hinweg dauert bis in die Gegenwart an. Dadurch verlieren die konfessionellen Kirchen- und Frömmigkeitsstile nichts von ihrem Profil, wohl aber beziehen sie sich nicht mehr ausschließlich negativ auf einander: Katholische Institutionen wie die Heiligenverehrung und der Marienkult finden heute auch in protestantischen Kreisen Verständnis, wenn nicht gar Nachahmung. Umgekehrt ist die protestantische Gemeindestruktur im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) von der katholischen Kirche weitgehend adaptiert worden.

Reformation – ein Ereignis der gesamten Christenheit!

Was bedeutet dies nun für unser heutiges Verständnis von der Reformation? Zwei Antworten sollen abschließend festgehalten werden:

1. Wir dürfen die Reformation nicht länger mehr als ein rein protestantisches, sondern müssen sie zugleich auch als ein katholisches und das heißt: als Ereignis der gesamten westlichen Christenheit begreifen. Die Kirchenreformen sortierten sich auch im 16. und 17. Jahrhundert noch nicht klar nach „katholischen“ und „protestantischen“ Reformmaßnahmen, sondern bündelten sich erst nach und nach zu Reformprofilen, die dann im 18. und 19. Jahrhundert als konfessionelle Identitäten begriffen wurden. Die Ohrenbeichte gilt seither als „katholisch“, die Konfirmation als „protestantisch“. Katholische Priester tragen beim Gottesdienst mitunter ein bunt besticktes, protestantische Pfarrer fast immer ein schlichtes schwarzes Ornat usw.

2. Luther gab zwar wesentliche Anstöße zur Reform und Spaltung der westlichen Christenheit, er setzte aber nicht die Reformation in Gang. Diese setzte vielmehr schon ein bis zwei Jahrhunderte früher mit der Subjektzentrierung des christlichen Glaubens ein, wie sie in der aus den Niederlanden kommenden devotio moderna vorgelebt und von so verschiedenen Reformern wie Luther und Ignatius von Loyola aufgegriffen wurde. Nicht mehr Gottes große kosmologische Ordnung, sondern der Mensch mit seinen zahlreichen Nöten und Fragen – zum Beispiel Luthers Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ – stand jetzt im Zentrum des christlichen Glaubens.
Und an dieser großen Wende zum Menschen als Mittelpunkt der Schöpfung nahmen auch nicht nur religiöse, sondern auch säkulare Strömungen wie der Humanismus und die Mystik teil. Sie fügten sich auch später nicht immer der konfessionellen Spaltung, erwiesen sich aber gerade darin als Signaturen der Moderne. Es ist diese Subjektzentrierung europäischen Denkens, die auch heute noch bei der Fünfhundertjahrfeier der Reformation zur Debatte steht. Nicht die Kirchenspaltung, sondern die Zentralstellung des Menschen innerhalb und zur Welt macht ihren wesentlichen Kern aus. Die Reformation betrifft daher Katholiken und Protestanten gleichermaßen, aber auch Humanisten, Juden und die säkulare Gesellschaft insgesamt.

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