Wodurch sind moralische Normen begründet?

Ethikkommissionen sind seit den 90er Jahren wichtige Beratungsgremien vor allem in politischen Entscheidungsprozessen. Konrad Hilpert, Professor für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, analysiert Status, Verfahrensweisen und Effizienz dieser Gremien.

In Deutschland sind seit den 90er Jahren - wie in anderen Ländern - eine Reihe von Gremien entstanden, deren Aufgabe darin besteht, in schwierigen, weil komplexen ethischen Fragen Rat zu geben. Sie werden mit dem Oberbegriff Ethikkommissionen bezeichnet, unterscheiden sich allerdings nach Aufgabenstellung und institutionellem Kontext beträchtlich.

Ethikkommissionen wie der vom Bundestagspräsidenten je zur Hälfte auf Vorschlag des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung berufene Deutsche Ethikrat haben neben der Information der Öffentlichkeit und der Förderung der Diskussion und Zusammenarbeit mit ähnlichen Gremien die Aufgabe, "Stellungnahmen sowie ... Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln" zu den "ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen, sowie (den) voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben"1, zu erarbeiten.

Themen, zu denen er Stellung bezogen hat, waren die Patientenverfügung, Sterbehilfe, Stammzellforschung, Biobanking, Präimplantationsdiagnostik und jüngst die Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen. Eine eigene, erst 2011 von der Bundesregierung berufene Ethikkommission "Sichere Energieversorgung" hatte sich mit der Zukunft der Kernenergie zu befassen2. Aufgabe anderer Ethikkommissionen ist es, die ethische Vertretbarkeit von konkreten Forschungsanträgen zu prüfen (etwa die Zentrale Ethikkommission für Stammzellforschung)3, Richtlinien für das Handeln eines Berufsstandes zu entwickeln (z. B. die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer)4 oder schwierige Einzelfallprobleme, die in Kliniken und in Pflegeheimen auftauchen, zu erörtern (sogenannte Ethikkomitees)5.

Ethikkommissionen der genannten Typen sind aber keineswegs die einzige Form organisierter Politikberatung in ethischen Fragen. Neben ihnen haben in der Vergangenheit auch Enquete-Kommissionen des Bundestags, wissenschaftliche Beiräte von Ministerien, eigens einberufene Expertenkommissionen und Akademien der Wissenschaften wie im Frühjahr 2011 die Leopoldina zur Präimplantationsdiagnostik6 über ethische Problemkomplexe beraten und anschließend Empfehlungen abgegeben.

Beratung und Expertise

Gemeinsam ist all den verschiedenen Formen von Ethikkommission7, daß sie nicht darauf zielen, Entscheidungen zu treffen oder durch die Autorität des Gremiums unausweichlich zu machen. Das bleibt vielmehr die Angelegenheit der dafür vorgesehenen Institutionen des Parlaments, der staatlichen Verwaltung bzw. der Interaktion von Arzt und Patient. Das Ergebnis der Beratung ist ein Vorschlag, eine Empfehlung oder ein Votum, aber weder ein Beschluß noch eine Lehre oder eine Agenda für die Politik.

Der spezifische Dienst, den Ethikkommissionen für diese Entscheidungsorte und darüber hinaus für die Gesellschaft und den Willensbildungsprozeß relevanter einzelner oder Gruppen leisten können, ist also ein anderer, als es Platon mit den Philosophen als Königen bzw. den Königen als Philosophietreibenden vorschwebte8: Er besteht nämlich darin, daß ein bestimmtes komplexes Sachproblem aus der Perspektive und mit dem Sachverstand der verschiedenen relevanten wissenschaftlichen Disziplinen bzw. der beteiligten Professionen vorgestellt, gründlich reflektiert und erörtert wird. Zu dieser Anstrengung gehört auch die Überprüfung und gegebenenfalls Kritik gängiger Sichtweisen. Im Vordergrund hat dabei die wissenschaftliche Expertise zu stehen und nicht ein politisches Mandat oder die Loyalität zu einer weltanschaulich ausgerichteten Organisation.

Deshalb ist es so wichtig, daß die Tätigkeit von Ethikkommissionen im Gesamten wie auch die Mitarbeit der einzelnen Mitglieder unabhängig ist9. Was letztere für die Beteiligung an der Kommissionsarbeit qualifiziert, ist herausragende Kenntnis der Sache, Vertrautsein mit ethischen Problemstellungen und deren Identifizierung sowie Offenheit für die Sichtweisen anderer Fachdisziplinen. Ethikkommissionen würden sich selbst um ihre Glaubwürdigkeit bringen, wenn sie sich von der Politik als Legitimationsbeschaffer oder von der Wirtschaft als Interessenlobby instrumentalisieren ließen.

Bedarf an Ethikberatung

Bei den Themen, die von Ethikkommissionen beraten werden, handelt es sich typischerweise um Handlungsmöglichkeiten, die erst seit relativ kurzer Zeit durch Fortschritte auf den Gebieten biologischen oder medizinischen Wissens entstanden sind und deren - teils schon erfolgte, teils erst prognostizierte oder auch nur erwogene - Einbindung in technologische Anwendungen bzw. Aufnahme in den Katalog medizinischer Leistungsangebote zu starken Eingriffen in die menschliche Lebenswelt führt oder zumindest führen könnte. Der Umstand, daß diese Erkenntnisse und Möglichkeiten das bisherige Verständnis und die Begriffe von Leben und Tod, von Krankheit, Gesundheit und Behinderung und nicht zuletzt auch die Vorstellungen von Natürlichkeit und Wünschbarkeit berühren, manchmal auch herausfordern, macht die Heftigkeit der Debatten zumindest zum Teil verständlich.

Heftigkeit und Gegensätzlichkeit der Debatten spiegeln sich auch in den politischen Auseinandersetzungen um die inhaltlichen Themen wider. Wohl besteht weitgehend und rasch Einigkeit über die rechtliche Regelungsbedürftigkeit der neuen Handlungsmöglichkeiten. Zu eindeutig drängt sich die Vermutung auf, daß die Überschreitung bisheriger Grenzen das Selbstverständnis des Menschen als Gattungswesen verändert, für bestimmte Gruppen Nachteile oder für die Angehörigen künftiger Generationen massive Risiken mit sich bringen und das Berufsethos der Ärzte schwächen könnte. Weder für die konkreten neuen Möglichkeiten des Handelns noch für die Bewertung ihrer Reichweiten stehen Traditionen und Vorbilder zur Verfügung, so daß es leichtfertig wäre, deren Realisierung einfach der Nachfrage der einzelnen zu überlassen nach dem Motto, jeder möge das nach seinem Gutdünken entscheiden. Sobald es aber um konkrete Vorschläge für Regelungen geht, prallen die Meinungen von Befürwortern und Gegnern hart aufeinander. Nicht selten werden in diesem Zusammenhang Einwände geäußert, die grundlegende Richtungsänderungen, Abbrüche kultureller Traditionen, Verluste ganzer Wertsysteme oder Grenzüberschreitungen diagnostizieren. Auch werden gern Dammbruchszenarien verwendet. Wie stark die damit verbundene und möglicherweise zusätzlich vertiefte Polarisierung sein kann, läßt sich exemplarisch an der Debatte ablesen, die in Deutschland über die gesetzliche Regelung der Stammzellforschung geführt wurde10.

Der Streit über biomedizinische Handlungsoptionen kann unterschiedliche Ursachen haben. Differenzen in der Bewertung können sich aufgrund verschiedener Informationsstände derjenigen ergeben, die sich zur Sache äußern, die in aller Regel einigermaßen komplex ist. Streit kann auch dadurch ausgelöst werden, daß persönliche Intuitionen bzw. biographische Erfahrungen mit der Anstrengung einer auf Allgemeingültigkeit verpflichteten Argumentation in Konflikt geraten. Derartige Dissense können besonders hartnäckig sein, weil es hier auch um Identität und biographisch erworbene Überzeugungen geht.

Daneben gibt es allerdings auch den Streit, der aus der Verschiedenheit ethischer Positionen resultiert, die es in vielen modernen Gesellschaften faktisch gibt. Auf diesen richten sich die folgenden Überlegungen.

Dissens als Ausdruck und Folge der Pluralität ethischer Positionen läßt sich im ethischen Diskurs auf unterschiedlichen Ebenen antreffen. Die Ebene, die meistens im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht, ist die der praktischen Regeln und Vorschriften, also dessen, was als geboten, als verboten bzw. als erlaubt gelten soll. Solche Regeln sind auf typische Handlungs- und Entscheidungssituationen bezogen; sie sind also in ihrem Anspruch allgemeingültig und in dem, was sie regeln, konkret.

Eine zweite Ebene des Dissenses ist die des ethischen Ansatzes oder der ethischen Theorie. Die dritte Ebene betrifft die Anthropologie, also die Überlegungen, die auf die Frage "Was ist der Mensch?" eine Antwort geben wollen. Sie dienen als Leitvorstellung der ethischen Reflexion. Und schließlich kann man - eng damit verknüpft - noch eine weitere, vierte Ebene des Dissenses erkennen, nämlich die des Verständnisses der Wirklichkeit insgesamt und des übergreifenden Sinns, auf den hin ein Mensch sein Dasein versteht. Man könnte sie die religiöse, spirituelle oder weltanschauliche nennen. Es handelt sich um den Horizont der moralischen Überzeugungen und Deutungen, in die Menschen ihre Erfahrungen einordnen.

Wenn außer Zweifel steht, daß es gesetzliche Regelungen für die aus der biomedizinischen Forschung erwachsenden neuen Handlungsoptionen und Verfahren braucht, dann stehen der Rechtspolitik dafür zwei Regelkomplexe als Referenzinstanzen zur Verfügung: die Grundrechte als Teil der Verfassung und das Berufsethos der Ärzte. Letzteres wurde seit der Antike in Gestalt von Gelöbnissen festgehalten und den Ärzten während der Ausbildung beigebracht11. Es wurde bei der Zulassung zur Berufsausübung in Erinnerung gerufen und bei Beschwerden zur Basis der Beurteilung gemacht.

Auf beide Regelkomplexe wird im Streit der bioethischen Meinungen der letzten Jahre häufig Bezug genommen. Solches Bezugnehmen hat aber nur selten zum Ergebnis, daß der Dissens verschwindet oder sich deutlich reduziert; vielmehr führt er vielfach zu einer Ausweitung des Streits auf die Interpretation der Grundrechte bzw. der ärztlichen Grundhaltungen wie Respekt der Autonomie, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit12. Das deutlichste Beispiel ist der Streit um die normative Reichweite des Achtungsgebots der Menschenwürde im Kontext zahlreicher Debatten über konkrete Fragen.

Prinzipien und Grundhaltungen geben zwar eine Richtung vor, sie umreißen einen Gestaltungsraum, innerhalb dessen Lösungen gesucht werden können, und sie grenzen dadurch auch bestimmte Lösungen aus. Insofern sind sie notwendige Eckpunkte für die Kohärenz und die Konsistenz mit den übrigen geltenden Regeln. Aber sie genügen nicht, um aus ihnen allein die benötigten konkreten Regeln zu gewinnen.

Dazu ist die Rechtspolitik vielmehr auf die demokratische Öffentlichkeit angewiesen. Genauer gesagt muß sie auf den Raum der Öffentlichkeit zurückgreifen, in dem nicht nur Meinungen geäußert und vorgetragen werden, sondern auch Meinungen miteinander ringen und um die Zustimmung der Bürger werben. Umgekehrt ist die Öffentlichkeit das Forum, in dem Akteure, die gemeinsame Werte, Ziele oder Interessen vertreten - also zum Beispiel Parteien, Kirchen, Berufsverbände usw. -, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Bürger, Mandatsträger und politisch interessierter Personen auf bestimmte Themen lenken, Übereinstimmungen herbeiführen und Einfluß auf die Träger politischer Entscheidungen erstreben.

Nur wenn in der Öffentlichkeit eine hohe Übereinstimmung oder wenigstens stabile Mehrheitsmeinungen herrschen, besteht Aussicht, daß der Rückgriff auf die öffentliche Meinungsbildung zu einer eindeutigen Bevorzugung eines von mehreren alternativen Regelungsvorschlägen führt. Dies aber ist bei vielen biomedizinischen Angelegenheiten gerade nicht der Fall; hier sind die Positionierungen in der Öffentlichkeit - und infolgedessen auch in der Politik - vielfach gespalten und kontrovers.

Was tun? Vom Konzept der Demokratie wäre die naheliegendste Antwort: wie in allen anderen Regelungsmaterien die Mehrheit - und sei sie auch noch so knapp - entscheiden zu lassen. Bei politischen Entscheidungen, die moralisch Grundsätzliches betreffen, ist das allerdings nicht unproblematisch. Denn Mehrheiten sind nicht zwangsläufig Ausdruck gründlicher oder gar besserer Einsicht, sondern oft Folge parteipolitischer Festlegungen und Interessenkonstellationen. Noch bedenklicher wäre es, würde sich eine Regierung einfach den Vorschlag einer einzelnen Gruppierung oder Organisation zu eigen und ihn verbindlich machen.

In vielen europäischen Ländern und in den USA hat man aus diesen Gründen einen anderen Ausweg aus der beschriebenen Situation versucht, nämlich den, sich Rat bei Sachverständigen zu holen und das eben mittels Ethikkommissionen13.

Ethikkommissionen als Instrument öffentlicher Moralkommunikation

Zweck der Einrichtung einer Ethikkommission ist es, die Voraussetzungen dafür zu verbessern, daß sich zu einem bestimmten Thema trotz widersprüchlicher Positionen eine öffentliche Meinung abzeichnen oder herausbilden kann. Dazu kann eine aus Experten zusammengesetzte Kommission beitragen, indem sie erstens den neuesten Informationsstand, die zentralen Argumente und die wichtigsten Positionen für jeden Bürger, der dies will, verfügbar macht und indem sie zweitens diese Argumente und Positionen in ein Verfahren einbringt, das Widerspruch, Nachfrage und ständige Auseinandersetzung zuläßt bzw. sogar anregt14. Von wesentlicher Bedeutung ist hierbei, daß die Mitglieder der Kommission sich als gleichberechtigt austauschen.

Daß es bei der Erörterung in der Kommission unter Experten zu Auseinandersetzungen kommen kann und wird, wird als unvermeidbar und "normal" angesehen. Allerdings wird davon ausgegangen, daß diese Auseinandersetzungen trotzdem sachbezogen und mit der Bereitschaft geführt werden können, einander zuzuhören und sich auf Vernunftargumente einzulassen. Das bedeutet Verzicht auf Gewalt, Herabsetzung und jede Form bloß rhetorischer Persuasion.

Die Errichtung von Ethikkommissionen als Instrument der Politikberatung ist somit Ausdruck einer bestimmten Vorstellung von öffentlicher Kommunikation. Zentral für sie ist die Annahme, daß die Verarbeitung divergierender Positionierungen hin zu partiellen Konsensen durch Diskurs der Fachleute möglich ist und daß solche Mühe - stellvertretend investiert von den Mitgliedern der Kommission - für die rechtliche Gestaltung auch nützlich ist (D). Eine solche Kommission gibt sich also nicht damit zufrieden, den Dissens der Positionen nur abzubilden oder resignativ zu beklagen (A).

Zugleich unterscheidet sie sich aber auch von jenem Typus moralischer Kommunikation in der Öffentlichkeit, der in früheren Gesellschaften gang und gäbe war: Eine anerkannte Autorität, eine Gruppe oder Repräsentanten von solchen erheben gegenüber der Öffentlichkeit moralische Forderungen; dabei werden die Ansprüche anderer Gruppen und Instanzen nicht einbezogen. Das kann gelingen, solange in einer Gesellschaft weitgehend moralische Homogenität herrscht.

Ebenso wie von diesem, von Friedhelm Neidhardt als "Verlautbarungsmodell"15 charakterisierten direktiven Typus öffentlicher Kommunikation (B) unterscheidet sich das in den Ethikkommissionen realisierte Diskursmodell auch noch von einem weiteren, das häufig in Talkshows und politischen Arenen zu beobachten ist und in der Soziologie als "Agitationsmodell"16 bezeichnet wird (C): Es funktioniert so, daß prominente Akteure und Vertreter von Gruppen den Positionen anderer Repräsentanten und Gruppen Punkt für Punkt eine Gegenposition entgegensetzen und zu deren Meinung Stellung beziehen, allerdings ohne das geringste Interesse erkennen zu lassen, Verständigungsbrücken zu bauen und Lernprozesse in Gang zu bringen.

Vom Ethos des Diskurses

Ziel der Erörterung und des Diskurses innerhalb von Ethikkommissionen sind also (wenigstens partielle) Konsense trotz bestehender Dissense. Ihre Basis bilden Sachverstand, anerkannte ethische Prinzipien für einzelne Bereiche und grundlegende moralische Überzeugungen, die von denen geteilt werden, die in den entsprechenden Fachgebieten (z. B. Medizin) arbeiten. Die Methode, in bestimmten Fragen zu Konsensen zu gelangen, ist der Diskurs18.

Auch wenn von einer Ethikkommission Resultate in Gestalt von Empfehlungen zu neuen Optionen erwartet werden, besteht deren Erarbeitung weder in der gemeinschaftlichen Generierung und Verbindlichmachung einer neuen Ethik noch in einem Beschluß über eine einheitliche Moraltheorie für alle Mitglieder. Insofern sind auch nicht alle vier Ebenen des ethischen Dissenses (vgl. Schema 1) in der Ethikkommission gleichermaßen von Bedeutung oder gar Gegenstand der diskursiven Erörterung. Manches wie etwa der Streit um die grundlegenden einheitsstiftenden Prinzipien und den schlüssigsten theoretischen Ansatz der Ethik kann getrost der wissenschaftlichen Diskussion überlassen bleiben. Bei der Arbeit einer Ethikkommission geht es vielmehr und in erster Linie um die Etablierung eines Verfahrens, das trotz Unterschieden im ethischen Ansatz, in den anthropologischen Sichtweisen und in den weltanschaulichen Grundannahmen konsensfähige Regeln für neue moralische Handlungsfelder herauszufinden hilft.

Dabei läßt sich weder von vornherein ausschließen, daß sich auch einmal mehr als eine praktische Option als vertretbar herausstellt, noch daß sich ein Dissens als unauflösbar erweist, jedenfalls im Augenblick. Dann, aber erst dann, darf die Kommission auch ein gespaltenes Votum weitergeben. Ein Minderheitsvotum ist eine ultima ratio; berechtigt ist es erst dann, wenn zuvor alle Möglichkeiten, zu einem Konsens zu kommen, ausgeschöpft wurden und gescheitert sind.

Ethikkommissionen eignen sich demnach nicht dazu, ethischen Pluralismus aufzuheben bzw. durch einen neuen Ansatz zu überholen. Sie sind lediglich ein Werkzeug, um bei tiefgreifenden ethischen Dissensen praktikable Regelungen in ethisch sensiblen Feldern möglich zu machen. Ob sie dieses Ziel auch erreichen, ist in jedem Erörterungsgang unsicher, weil es den Mitgliedern große Disziplin abverlangt. Wenn einzelne von ihnen den Diskurs als Bühne zur Selbstdarstellung benutzen und von vorneherein vor allem auf Abgrenzung oder Durchsetzung der eigenen Position aus sind, kann das die Toleranz der anderen Teilnehmer überfordern.

Ethische Konsense führen bei der rechtlichen Regulierung zwangsläufig zu Kompromissen; und Kompromisse19 sind ethisch nie maximale Lösungen. Sie dürfen deshalb aber nicht diskreditiert werden, zumal auch partielle Konsense, wenn ihre Bedingungen im Diskurs transparent gemacht werden, ein Beitrag zum sozialen Frieden der Gemeinschaft sind.

Umgekehrt wäre es eine Überforderung der Mitglieder von Ethikkommissionen, wenn von ihnen eine Distanzierung von ihren eigenen theoretischen Ansätzen und weltanschaulichen Verwurzelungen verlangt würde. Diese müssen aber von ihnen, soweit sie für Positionierungen in bestimmten Fragen relevant sein sollen, verstehbar gemacht (bzw. soweit es sich um persönliche Stellungnahmen handelt, als solche gekennzeichnet) werden.

Grenzen und Gefahren

Es würde Ethikkommissionen überfordern, wenn sie als Instanzen der Feststellung letztgültiger Wahrheit betrachtet würden. Und auch, wenn sie für Instrumente, um zu Entscheidungen zu kommen, gehalten würden. Ihre genuine und damit auch beschränkte Aufgabe besteht vielmehr darin, ihrem Auftraggeber - sei es Parlament, Regierung, Staatsorgane, die in einen Krankheitsfall verwickelten Personen - Entscheidungs- und Argumentationshilfen für regelungsbedürftige, aber fachlich und politisch komplexe Probleme mit einer ethischen Dimension zu geben, und das auf der Basis des besten Wissensstandes und mit der Chance, alle wichtigen Gesichtspunkte, Aspekte und Positionen zu berücksichtigen. Diese Aufgabe ist dieselbe, gleich ob das Ergebnis der Beratung am Ende als Stellungnahme, als Empfehlung oder als Votum zu einem Projekt formuliert wird.

Glaubwürdigkeit und Rezeption dessen, was eine Ethikkommission erarbeitet, hängen davon ab, daß sie dieser Aufgabe durch die Sorgfalt der Beratungen und die Güte der Ergebnisse gerecht wird. Darüber hinaus aber hängen sie auch davon ab, daß die Aufgabe, zu moralischen Problemen und Anwendungsfragen beratend Stellung zu nehmen oder Regelungsvorschläge zu entwickeln, nicht über- bzw. unterschritten wird. Überschritten würde sie, wenn die Ethikkommission von ihrem Auftraggeber statt als Instrument der Beratung als Ort der Entscheidungsfindung und je nachdem als Mittel der Legitimation oder der Selbstentlastung gebraucht würde; oder wenn die Kommission selbst ihr Votum als autoritative Weisung mißverstände. Unterschritten würde sie, wenn die Interessen derer, die im Zuge der Beratung zu Wort kommen dürfen, durch eine strategische Besetzung der Kommission von vornherein gefiltert würden oder die Kommissionsmitglieder selbst die Eindimensionalität ihrer Sicht nicht aufbrechen könnten oder wollten. Die Quelle der Gefährdung kann also sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kommission liegen.

Wozu Ethikkommissionen gut sind: vier Antworten

Widerstehen Auftraggeber wie Ethikkommissionen den genannten Gefahren, dann sind Ethikkommissionen erstens ein neues institutionelles Instrument, um in einer demokratischen Gesellschaft die rechtliche Regelung komplexer Handlungsmöglichkeiten im Sinn von Verständigung und sozialem Zusammenhalt trotz bestehender ethischer Pluralitäten zu ermöglichen.

Sie sind zweitens ein Weg, wie einerseits die Frage von richtig oder falsch bzw. der menschlichen Verantwortbarkeit bzw. Nichtverantwortbarkeit von Regelungen durch eine Einschaltung einer Kommission nicht direkt der Abstimmung, also der Meinung der Mehrheit, unterworfen wird, anderseits jedoch durch strikte Begrenzung ihrer Funktion auf Beratung die Substituierung der politischen Willensbildung durch Expertenherrschaft vermieden wird.

Die Aufgabe der Arbeit von Ethikkommissionen kann drittens nicht darin bestehen, neue moralische Sichtweisen, ethische Theorien oder auch nur Prinzipien zu generieren, sondern einen "Rahmen" zu entwickeln, in dem trotz unterschiedlicher ethischer Konzeptionen, Argumentationstypen und weltanschaulicher Überzeugungen konsensuelle Regelungsvorschläge für ethisch sensible neue Fragen gesucht, deren moralische Dimension abgeklärt, das Gewicht gängiger ethischer Argumente überprüft und die Konsistenz von Lösungsvorschlägen mit geltenden Regelungen bedacht werden können.

Insofern der Gegenstand der Arbeit von Ethikkommissionen moralisch strittige Fragen sind, die zugleich hoch komplex sind, müssen Ethikkommissionen viertens aus unabhängigen Experten bestehen, die die für den zur Diskussion stehenden Handlungsbereich relevanten Wissenschaftsdisziplinen repräsentieren. Das Expertentum der Mitglieder umfaßt sowohl Sachverstand und Faktenwissen wie auch die persönliche Fähigkeit, die Sichtweisen der anderen Disziplinen zur Kenntnis zu nehmen und mit Selbstdistanz20 zu den eigenen Meinungen und Interessen nach konsensuellen Lösungen zu suchen.

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